Agilität trifft Kultur – Erfolg oder Desaster?

Von Zoi Natsiopoulou und Markus Kling

Agilität ist heute in aller Munde. Lasst uns eine kleine Reise in die Vergangenheit unternehmen und uns ansehen, wie und wo alles begann. Im Winter 2001 trafen sich 17 Menschen in den Bergen von Utah um gut zu essen, Ski zu fahren und um über Software Entwicklung zu reden. Dabei kam das Agile Manifest [1] heraus. Eine Sammlung von Ideen, wie man Software entwickeln kann ohne die dokumentenbasierten und schwerfälligen Ansätze der damaligen Zeit. Aber es war nicht nur eine Ideensammlung: das Agile Manifest war auch Ausdruck eines geteilten Wertesystems, das auf Vertrauen und Respekt aufbaut und Menschen und ihre Zusammenarbeit konsequent in den Mittelpunkt stellt. Dieser Kodex spiegelt sich in den Werten und Prinzipien des Agilen Manifestes wider. 

Warum erzählen wir diese Geschichte, die doch jeder Agilist kennt? Weil wir wie Jim Highsmith glauben und betonen möchten, dass es “letzten Endes bei dem kometenhaften Anstieg – und manchmal auch der heftigen Kritik  – an agilen Methoden es am Ende doch um das “mushy stuff” geht” – also um Werte und Kultur.

Agile is not a process – it defines a culture.

Michael K. Sahota

“Agilität ist kein Prozess – sie definiert vielmehr eine Kultur” [2] und wir reden in ersten Linie von Kultur, wenn wir von Agilität reden.

Unternehmenskultur ist eine der größten Herausforderungen bei Agilen Transformationen

Bei unserer Arbeit erleben wir immer wieder, dass Unternehmen ihre Agile Transformation damit beginnen, ein Framework auszuwählen. Im Anschluss wird es eingeführt mit Trainings, Rollen, Meetings und allem was dazu gehören könnte. Nach einer Weile stellt man dann fest, dass es irgendwie nicht funktioniert mit der Agilität. Die gewünschten Ergebnisse bleiben aus und manches ist sogar schlimmer als vorher… es knirscht im Getriebe. Aus unsere Sicht liegen die Gründe dafür nicht auf der Prozessebene sondern in einem regelrechten “culture clash”. 

Verschiedene Unternehmen haben unterschiedliche Kulturen, die mal mehr und mal weniger mit agilen Werten und Prinzipien zusammenpassen. Diese Kulturen sind nicht per se gut oder schlecht, sondern sie sind einfach da. Je weiter weg die – mitunter über Jahrzehnte kultivierten – Werte und Prinzipien eines Unternehmens von den agilen Werten und Prinzipien liegen, umso mehr kommt es bei Agilen Transformationen zu Hindernissen, die wiederum den Veränderungsprozess erschweren. 

Diese Erfahrung deckt sich mit den Ergebnissen aus dem State of Agile Report (2021) [3]. Der Widerspruch zwischen der aktuellen Kultur in der Organisation und den agilen Werten wird dort als das zweithäufigste Hindernis bei der Einführung von Agilität genannt. 

Was läuft da schief? 

Aus unserer Sicht ist es wichtig die bestehende Organisationskultur zu berücksichtigen, bevor man sich für eine agile Transformation oder ein Framework entscheidet. Eine Standortbestimmung der Kultur und damit eine Klarheit darüber, wo wir als Unternehmen starten und wo wir hinwollen, unterstützt dabei sinnvolle Entscheidungen zu treffen. Wird dieser Schritt ausgelassen, läuft es oft mühsam. Wenn wir beispielsweise bis jetzt als Unternehmen auf Experten gesetzt haben, dann wird es uns schwerfallen ein kollaborativ- und teambasiertes Framework wie Scrum einzuführen. Entscheiden wir uns trotzdem dafür, müssen wir bereit sein, am Anfang Produktivitätsverluste und Lernkosten [4] zu akzeptieren. Kommen harte Liefertermine hinzu, ist der Stress vorprogrammiert. 

Das muss nicht sein – und es muss auch nicht immer Scrum oder SAFe sein. Viele Wege führen nach Rom, und welcher am Besten zu uns passt können wir entscheiden, wenn wir wissen wer wir sind und wie wir ticken. 

Modelle helfen bei der Lösung

Nichts ist so praktisch wie eine gute Theorie [5]. Um zu verstehen wie wir als Unternehmen “ticken”, können wir uns verschiedener Modelle bedienen. Welche wir dabei genau verwenden, ist im Prinzip nicht ausschlaggebend – solange uns bewusst ist, dass es sich um ein Modell handelt, das lediglich versucht sich einer komplexen Realität zu nähern. Es ist eine Vereinfachung der Realität die wir bewusst hinnehmen, damit wir praktisch damit arbeiten können. 

Wir haben in diesem Zusammenhang gute Erfahrungen mit dem Kultur-Kompatibilitäts-Modell von William E. Schneider gemacht, weil es eingängig und handlungsorientiert ist. 

Das Kultur-Kompatibilitäts-Modell

William Schneider entwickelt In seinem Buch [6] ein Modell zur Bestimmung der Kultur eines Unternehmens. Da es sehr viele unterschiedliche Vorstellungen von den Begriffen Kultur bzw. Unternehmenskultur gibt, liefert er eine Definition von Kultur im Zusammenhang mit seinem Modell mit:

Culture is: How we do things around here in order to succeed

William E. Schneider

Frei übersetzt in etwa: Kultur ist die Art und Weise, wie wir in unserem Unternehmen agieren, um erfolgreich zu sein.

Dies geschieht im Schneider Modell in zwei Dimensionen, die er Inhalt (content), bzw. Prozess (process) nennt. 

Inhalt ist das, worauf eine Organisation ihr Augenmerk legt, also was für die Organisation wichtig ist. Laut Schneider gibt es Organisationen, die mehr Fokus auf die Gegenwart (actuality) legen und andere, die sich mehr mit den Möglichkeiten beschäftigen, die ihnen die Zukunft bieten könnte (possibility).

Prozess dagegen ist die Art und Weise, wie die Organisation zu Entscheidungen kommt. Diese Dimension spannt sich zwischen den Extremen persönlich (personal), also mit den Mitgliedern der Organisation im Mittelpunkt und unpersönlich (impersonal) mit der Organisation selbst im Mittelpunkt.

Legt man diese Dimensionen orthogonal zueinander, bekommt man ein Koordinatensystem, das vier Quadranten bildet. In diesen Quadranten verortet Schneider vier Kernkulturen.

Je nachdem, welche Inhalte und Prozesse in einer Organisation dominanter sind, lässt sich sagen, welcher Kernkultur sie am ehesten zugeordnet werden kann. Dabei betont Schneider, dass mit dieser Zuordnung keine Wertung verbunden ist. Eine Kultur ist per se nicht gut oder schlecht. Es gibt immer Gründe, warum eine Kultur so ist wie sie ist. Die Definition “How we do things around here to succeed” beinhaltet ja auch den Erfolg am Markt – eine erfolgreiche Organisation kann nicht alles falsch gemacht haben.

Es lohnt sich, diesen Punkt nochmal explizit zu betonen: 

[…] core culture conveys no meaning of better or higher or superior. One core culture is not better than another.

William E. Schneider

Genauso lohnt es sich zu betonen, dass die Kernkulturen theoretische Reinformen sind, die in der Realität nicht in dieser Einseitigkeit existieren. Vielmehr beinhalten bestehende Organisationen in der Regel Elemente aus mehreren benachbarten Kulturen. Es sind die vorherrschenden Merkmale, die die Kernkultur definieren.

In seinem Buch stellt Schneider auch einen Fragebogen mit 20 Fragen vor, anhand derer man die Kernkultur einer Organisation ermitteln kann. Diesen Fragebogen gibt es auch online unter https://www.surveymonkey.com/r/VVNT5FB 

Was verbirgt sich nun hinter den einzelnen Kernkulturen?

Kollaborativ

Persönlich und auf die Gegenwart ausgerichtet. Zusammenarbeit ist alles. Sehr häufig in Teams oder Teams of Teams strukturiert. Generalisten fühlen sich hier wohl, Diversität wird großgeschrieben. Die Kommunikation ist offen, frei und direkt. Sehr oft fühlen die Mitglieder eine starke Verbundenheit mit der Organisation wie auch untereinander.

In einem Umfeld mit Konkurrenten, die mit harten Bandagen kämpfen, tut sich eine kollaborative Organisation schwer – sie sucht die Harmonie. Talentierte Einzelkämpfer finden hier keine Bestätigung und bleiben in der Regel nicht lange. Sie hält nicht viel von Plänen und wird durch ihre Anpassungswilligkeit mitunter zum Spielball ihrer Umgebung. Auch läuft sie Gefahr, zu lange für Entscheidungen zu brauchen.

Kultivierung

Persönlich und in die Zukunft schauend. Werte sind wichtig, der Zweck der Organisation und der Beitrag ihrer Mitglieder und ihre Weiterentwicklung stehen im Mittelpunkt. Kontinuierliche Verbesserung, Vertrauen und Selbstverpflichtung sind grundlegend in einer auf Kultivierung ausgelegten Organisation. Idealisten finden hier eine Heimat.

Auch die kultivierende Organisation tut sich schwer mit Konkurrenten, die nicht fair spielen. Sie läuft Gefahr, die Richtung zu verlieren, weil sie sich zu sehr in den Möglichkeiten der Zukunft  verstrickt und dabei die Gegenwart außer Acht lässt. Manche Mitglieder gehen so in ihrer Teilnahme auf, dass sie ausbrennen.

Kompetenz

Unpersönlich und in die Zukunft gerichtet. Wissen, Können und Expertise sind zentral für den Erfolg. Sie strebt nach Perfektion und Überlegenheit. Dabei geht sie logisch, analytisch, technokratisch, ziel- und ergebnisorientiert vor.

Emotionen und Werte werden nur gering geachtet. Das konstante Streben nach Perfektion kann zu Unzufriedenheit mit dem Erreichten führen. Zusammenarbeit und Teams sind nicht sehr im Mittelpunkt, da nicht nur die Organisation sondern auch ihre Mitglieder die Besten sein wollen. All das kann für ihre Mitglieder zu Stress und einem Gefühl der Unzulänglichkeit führen.

Kontrolle

Unpersönlich und in der Gegenwart beheimatet. Steht für Stärke, Stabilität, Planung, Ordnung und Vorhersagbarkeit. Leute fühlen sich in einer Kontrollkultur sicher, da Erwartungen, Rollen und Stellenbeschreibungen klar und abgegrenzt sind.

Dagegen sind Innovationen eher schwierig. Konflikte sind unerwünscht, werden nicht offen ausgetragen. In der Folge kann Misstrauen um sich greifen, offene Kommunikation leidet, (vor allem negative) Informationen werden nicht weitergetragen. Bürokratisierung ist ein häufiges Problem in einer von Kontrolle dominierten Umgebung.

Das Schneider-Modell in (Agilen) Transformationen

Betrachtet man Kultur als eine wichtige Determinante für den Erfolg von Veränderungsprozessen, helfen uns die Kernkulturen zu entscheiden wie wir diese Prozesse gestalten können. Die Kernaussage aus dem Modell ist logisch und einfach: Kernkulturen die diagonal zueinander liegen, bilden totale Gegensätze. Der Weg von Kontrolle zu Kultivierung oder der Weg von Kompetenz zu Kollaboration ist am schwierigsten, da es sowohl auf der Inhalts- als auch auf der Prozessebene starke Unterschiede gibt.

Agile Frameworks bauen beispielsweise sehr stark auf Zusammenarbeit und Kultivierung. Expertise ist wichtig, aber der Mensch und der Sinn hinter der Arbeit stehen im Vordergrund. Wir finden sie im linken Bereich des Koordinatensystems wieder. Eine Organisationskultur, die auf Experten setzt und/oder starke hierarchische Strukturen hat, wird sich daher mit der Agilität sehr schwer tun. Der Schritt ist zu groß und nicht alle können ihn mitgehen. Ist einem das bewusst, sollte man überlegen ob vielleicht Kanban besser passen könnte. Oder ein Modell wie die Flight Levels, das eher wenige Voraussetzungen benötigt. Alternativ bedient man sich ganz pragmatisch aus verschiedenen Töpfen und schafft sein eigenes passendes Framework. So startet man die Transformation mit den eigenen Stärken im Gepäck, macht positive Erfahrungen und mehr Türen gehen auf. 

Wir wenden das Modell von Schneider gern in Workshops an. Es entsteht dadurch ein gemeinsames Verständnis und eine Standortbestimmung der aktuellen Unternehmenskultur. Wenn man erkennt, dass man sich auf der rechten Seite des Koordinatensystems befindet und man Agil werden möchte, muss man auch sehr viele Elemente einer gegensätzlichen Kultur aufnehmen. Das ist eine gefährliche Strategie, weil man dann mit der Transformation in Teilen gegen seine eigene Kultur arbeitet. Wie Edgar H. Schein schon 1985 gesagt hat: “Culture constrains strategy” [7]

Schneider bringt in seinem Buch ein sehr greifbares Beispiel, wie der Zusammenschluss zweier Unternehmen mit gegensätzlichen Kulturen zu großen Problemen geführt hat:

“The world´s views of the two firms…were radically different. Rockwell´s company culture looked at the world as a rough-and-tumble place where profit margins dominate decision making. North American’s environment was more noble. Some 60 well-paid PhD´s…spent only 20 percent of their time on company business and were free to devote the rest of their time as they chose to basic research. This was not compatible with Rockwell’s obsession about controlling costs and margins. Thirteen years later, executives are still trying to improve the cultural fit of the two firms.” (S.14f)

William E. Schneider

Fazit

Viele Unternehmen empfinden ihre aktuelle Kultur als ein großes Hindernis für ihre agile Transformation. Deswegen halten wir es für absolut wichtig, die bestehende Unternehmenskultur zu bestimmen, bevor man eine Entscheidung für eine Richtung und damit eventuell für ein Framework trifft. Agile kann das Richtige sein – oder aber in ein Desaster führen. Egal wohin es für Sie und Ihre Organisation gehen soll: Lassen Sie sich von jemandem unterstützen, der sich damit auskennt. 

Referenzen:

[1] https://agilemanifesto.org/ 

[2] Sahota M., An Agile Adoption and Transformation Survival Guide: Working with Organizational Culture, 2012

[3] https://digital.ai/resource-center/analyst-reports/state-of-agile-report

[4] https://markus-kling.de/herangehensweise/

[5] Kurt Lewin, Problems of Research in Social Psychology, in: Field Theory in Social Science, 1951

[6] Schneider William E., The Reengineering Alternative – A Plan for Making Your Current Culture Work, 1994

[7] Schein Edgar H., Organizational Culture and Leadership, 1985

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