Neulich bei LinkedIn…

Stellenanzeige bei LinkedIn Mitte April 2022 – kein Aprilscherz…

… hat der Agile Coach endgültig seinen Todesstoß erhalten. Er war ja schon geschwächt und über die Jahre hin erodiert – aber mit dieser Stellenanzeige ist er endgültig tot. Ein Nachruf.

So schön war die Zeit

2002 bin ich durch eine Fügung des Schicksals vom Entwickler (auch) zum Extreme Programming Coach geworden, 2008 dann zum Scrum Master und 2012 zum Kanban Coach. Nachdem ich mehr als 10 Jahre praktische Erfahrung in Agiler Softwareentwicklung und in mehreren Agilen Ansätzen gesammelt hatte, habe ich es 2013 gewagt, mich Agile Coach zu nennen. Damals war das etwas Besonderes, und ich war stolz darauf. Wir waren wenige, und alle waren in der agilen Wolle gefärbt und hatten etwas zu sagen, etwas mit Substanz, denn wir alle hatten Erfahrung in dem was wir taten. Damals war der Agile Coach einer, der Erfahrung hatte, Erfahrung mit mehr als „nur“ einem Ansatz wie zum Beispiel Scrum.

Dann kam der Hype. Immer weitere Kreise hat er gezogen und unter anderem dafür gesorgt, dass man heute niemandem mehr mühsam erklären muss, dass und warum dieser neue heiße Agile Sch… funktioniert. Weil es nicht mehr neu und heiß ist – jedenfalls vordergründig. Dafür muss man heute vielen erklären, dass das was sie unter „agil“ verstehen, nicht das Agil ist wie es gemeint war. Nicht einfacher ist es geworden, nur anders. Aber das wäre Stoff für einen eigenen Artikel…

Leider hatte und hat der Hype auch andere Auswirkungen. In den letzten zehn Jahren war die Nachfrage nach Agiler Unterstützung praktisch ständig höher als das Angebot an kompetenter Agiler Unterstützung.

Agile Coach wird zum Scrum Master für die Organisation

Scrum wurde in diesem Zuge zum weitaus populärsten Framework – und leider auch oft für Zwecke missbraucht, für die es nicht geeignet ist – siehe Scrum ist der Hammer – für jede Schraube? Eine andere beliebte Alternative: Das Feigenblatt. Vorhandene Meetings mit den Namen von Scrum Events schmücken, vorhandene Rollen umbenennen in die Scrum Rollen – und fertig ist es, das Scrum Feigenblatt.

Mit dieser Entwicklung ging auch eine Entwicklung der Rollen Scrum Master und Agile Coach einher: Während der Scrum Master im Scrum Guide drei Wirkungsrichtungen hat, nämlich in Richtung Entwickler, in Richtung Product Owner und in Richtung Organisation, wurde der Scrum Master in der Realität vieler Organisationen auf das Scrum Team (Entwickler und Product Owner) beschränkt. Der Agile Coach hingegen wirkt auf einer „höheren“ Ebene in die Richtung der Organisation.

Damit war mein Weltbild schon mal um 90° zur Seite gekippt. Für mich war der Agile Coach nicht höher gestellt als der Scrum Master, sondern lediglich breiter aufgestellt, weil er eben nicht nur Scrum „kann“. Für mich gab (und gibt) es keine Hierarchie der Agilen Rollen.

Nachdem ich einige Jahre mal als Scrum Master und mal als Agile Coach gearbeitet hatte, ging das irgendwann nicht mehr. Nicht nur, aber auch weil die Tagessätze für den Scrum Master in dem Maße bröckelten wie seine Kompetenz zurückgestutzt wurde. Stichwort: Teamebene, also im Weltbild der meisten ganz unten 🙁

Armer Scrum Master. Aber ich hatte ja noch den Agile Coach…

Plötzlich ist jeder ein Agile Coach

Agile Coach ist kein geschützter Begriff. Jeder darf sich so nennen. Jeder. Wirklich jeder. Gut, einige haben wahrscheinlich wenig Grund dazu. Aber es gibt genug Leute, die suchen einfach nur einen Job, in dem man sehr gefragt ist, gut bezahlt wird und nicht viel kennen oder können muss – die Kunden haben in der Regel ja wenig Möglichkeiten, die Spreu vom Weizen zu unterscheiden.

Einmal den Scrum Guide gelesen, zwei Tage Schulung investiert (oder auch nicht), das Scrum Master Zertifikat erworben – der Weg zum Agile Coach ist leicht in einer Woche zu schaffen.

So kam es zum glanzlosen Abstieg des Labels Agile Coach. Masse statt Klasse. Leute mit drei Monaten und weniger Erfahrung nennen sich heute Agile Coach. Buchstäblich jeder – auch solche, die wirklich auf der Brennsuppe dahergeschwommen sind. Der Segen wird zum Fluch, der einst glanzvolle Titel zum Stigma.

Die Idee, einen Werkstudenten zum Agile Coach zu machen, ist hier nicht mehr tragisch, sondern nur noch konsequent.

Wenn ein Nichtschwimmer ertrinkt, ist das nicht tragisch, sondern konsequent.

Gerhard Polt

Führt man die Konsequenz fort, werden in der nächsten Zeit an den Grundschulen die ersten Agile Coaches eingeschult – schließlich gibt es ja Agile Parenting auch schon eine ganze Weile.

Da fällt mir ein, im Kindergarten meines Sohnes hatten sie für die Spielstationen schon so eine Art Kanban System….

Was bedeutet das jetzt für uns Veteranen? Kann sein, dass es Zeit für uns ist, nach Hause zu gehen. Jede Idee, die in die Welt hinausgetragen wird, wird schließlich weiterentwickelt, verändert und verwässert – manchmal bis zur Unkenntlichkeit. Und es ist heute so frustrierend wie damals. Damals glaubte jeder, man redet wirr, wenn man davon sprach, was man mit Agil verändern und bewirken kann. Heute glaubt jeder, man redet wirr, wenn man erzählt, wie das mit dem Agilen wirklich gedacht war.

Leider kommt das für mich nicht in Frage. Ich muss hier noch ein wenig bleiben. Und eigentlich macht mein Beruf mir Spaß – nur kann ich mich nicht mehr Agile Coach nennen. Bitte nicht falsch verstehen: Nichts gegen Berufsanfänger oder Werkstudenten – auch ich habe mal angefangen.

Aber das geht nicht zusammen: Ein Topf für alle, ohne Diskriminante!? Agiler Eintopf – schöpft, liebe Kunden, und schaut – manchmal bekommt ihr ein Stück Fleisch, meistens aber leider nur eine Kartoffel oder eine Gelbe Rübe…

Entweder bin ich kein Agile Coach mehr oder Berufsanfänger und Werkstudenten sind noch keine Agile Coaches. Das ist im Moment mein Fazit.

Der Agile Coach ist tot, es lebe der …

Aber wenn ich kein Agile Coach mehr bin, was bin ich dann?

Senior Agile Coach? Principal Agile Coach? Intergalactic Agile Coach & Scrum Master of the Universe? Oder sollte ich eine dieser fancy Zertifizierungen machen, die in den letzten Jahren wie die Pilze aus dem Boden schießen – und die etwa genauso wertvoll sind wie diese Pilze – wie hießen sie noch? Pfifferlinge? Oh ja, Zertifikate – Stoff für mindestens einen weiteren Artikel! Spoiler Alarm: Die wirklich Schlauen erwerben keine Zertifikate, sondern bieten sie zum Kauf an…

Im Moment gehe ich als Agile Enthusiast oder auch mal als Agiler Organisationsentwickler. Aber zufrieden bin ich damit nicht, liebes Webtagebuch.

Über den Autor

Weitere Beiträge

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert