Auch wenn Fabeln nicht jedermanns Sache sind, will ich heute mal mit einer einsteigen – weil sie grade so schön passt:
Die Fabel vom Zimmermann und seinem Hammer
Es war einmal ein Hammer. Der Hammer gehörte einem Zimmermann, und dieser war sehr glücklich mit seinem Hammer. Er (der Hammer) hatte einen wunderschön glänzenden und federnden Holzstiel und einen pechschwarzen Kopf mit einer silbrig glänzenden und gerippten Hammerbahn auf der einen Seite. Auf der anderen Seite des Kopfes besaß er eine Klaue mit einem verlängerten Zahn. Er war ein Zimmermannshammer von allerbester Qualität.
Der Zimmermann benutzte seinen Hammer Tag für Tag. Er schlug damit Nägel von unterschiedlichster Größe ins Holz. Mit den Jahren gelang ihm das besser und immer besser. Und selbst wenn er einmal einen Nagel nicht ganz auf den Kopf traf, konnte er mit der Klaue des Hammers die Sache noch retten, indem er den Nagel wieder entfernte und einen neuen an dessen Stelle einschlug. Manchmal rettete er mit seinem Hammer sogar leicht krumme Nägel, indem er sie vorsichtig wieder begradigte und dann erneut verwenden konnte.
Doch der Hammer war noch vielseitiger: Mit der Klaue konnte der Zimmermann den Hammer dazu benutzen, schwere und schlecht zu greifende Holzteile zu bewegen. Außerdem konnte er den Hammer damit im Holz fixieren und hatte dann auch in schwierigen Situationen beide Hände frei.
Mit der Zeit lernte er sogar, Bierflaschen mit dem Hammer zu öffnen und andere Kunststücke (selbstverständlich tranken alle auf der Baustelle nur alkoholfreies Bier).
So glücklich war der Zimmermann mit seinem Hammer, dass er auf jeder Baustelle, auf die er kam, seinen Kollegen aus den anderen Gewerken stolz von seinem Hammer erzählte und davon, was er damit alles tun könne und wie der Hammer ihm das Leben leichter mache.
Die Kollegen hörten sich die Geschichten an, und weil der Zimmermann so voller Feuer und Flamme erzählte und ihnen so glücklich erschien, merkten viele sich seine Geschichten und erzählten sie bei passenden Gelegenheiten weiter.
So hörte irgendwann ein Trockenbauer die Geschichte vom Hammer und dachte sich: Das muss ich auch mal ausprobieren. Ich habe so viele Schrauben in meine Gipsplatten einzudrehen, dass mir abends immer das Handgelenk schmerzt. So ein Hammer könnte auch mein Leben einfacher und schöner machen.
Und so kam es, dass der Trockenbauer sich einen Zimmermannshammer zulegte, um damit seine Gipsplatten einfacher an die Unterkonstruktion schrauben zu können…
Es ist klar, wie die Fabel ausgehen würde: Der Trockenbauer erlebt einen kolossalen Reinfall und ist das Gespött der ganzen Handwerkerschar.
Von der Fabel zur Realität
Natürlich ist die Geschichte vollkommen an den Haaren herbeigezogen – niemals würde im Handwerk so etwas Hanebüchenes wirklich passieren. Die Leute wissen, wer wann wozu welches Werkzeug einsetzt und was man damit machen kann – und was man besser lässt. Sonst wären sie ganz schnell raus aus dem Geschäft.
Was aber wäre, wenn wir nur ein paar kleine Details ändern? Machen wir aus der Baustelle einen Golfplatz, aus den einfachen Handwerkern hochbezahlte Manager, und aus dem Hammer machen wir – Scrum.
Damit wird aus der Geschichte aus dem Reich der Fantasie plötzlich eine Situation, die so nahe an der Realität ist, dass uns das Lachen im Halse stecken bleibt.
Scrum ist an sich ein wunderbares Werkzeug. Es ist einfach (der Scrum Guide hat nur 16 oder so Seiten), es ist kostenlos verfügbar (jeder darf Scrum benutzen, man muss keine zertifizierten Scrum Master beschäftigen), es ist effektiv (kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen) – kurzum: Scrum ist ein Hammer! (Wortspiel beabsichtigt)
Das Dumme an Scrum ist nur: Wie beim Hammer gibt es – bei aller Vielseitigkeit – doch Situationen, wo es nicht gut geeignet ist. Leider ist es sogar so, dass es Situationen gibt, für die es absolut ungeeignet ist – es ist eben nicht jedes Problem ein Nagel.
Und doch hört man heute oft, dass der Hammer (Scrum) kein gutes Werkzeug ist, nach dem Motto „Das funktioniert auch nicht“.
„Moment! Das ist doch nicht mein Problem! Wenn ihr eine Nuss knacken wollt oder eine Schraube eindrehen und meint, das mit einem Hammer tun zu müssen, dann seid ihr selber schuld, wenn ihr euch mehr abmühen müsst als nötig – oder wenn nachher alles in Trümmern liegt! Das könnt ihr doch nicht mir anhängen…!“
Der Hammer
Offen gesagt, ich sympathisiere mit dem Hammer.
Mir drängt sich da eine Frage ganz besonders auf: Warum ist uns allen klar, dass in der Fabel der Trockenbauer die taube Nuss ist und nicht der Hammer?
In der Realität heißt es dagegen, Scrum ist Mist oder Agil taugt nichts. Keiner fragt, ob das Werkzeug vielleicht nur nicht das Richtige war oder gar: Wer denn die Idee hatte, ungeeignetes Werkzeug einzusetzen.
Oder noch einen Schritt weiter gedacht: Ob dieser Mensch denn überhaupt genug Ahnung von der Materie hat. Wir denken an den Trockenbauer…
Offensichtlich ist es so, dass in Unternehmen (im Gegensatz zum Handwerk, wo die Inhaber meist noch selber mitarbeiten) Entscheidungen zum Einsatz von Werkzeugen mitunter von Leuten getroffen werden, die zu wenig Ahnung davon haben, wie im Unternehmen wirklich gearbeitet wird.
Ein wahrer Fall
Vor einigen Jahren habe ich einen Auftrag angenommen, wo ich als Chief Scrum Master ein Projekt unterstützen sollte, das seit zwei Jahren versucht hatte, Scrum einzuführen und in dieser Zeit nichts geliefert hatte. Keinen Prototyp, keine Vorversion, rein gar nichts.
Ich weiß, was Sie denken, und Sie haben Recht: Das hätte mich schon stutzig machen sollen. Andererseits war ich jung und brauchte das Geld – und ich liebe Herausforderungen.
Leider stellte sich ziemlich schnell heraus, dass hier aus Sicht von Scrum nichts mehr zu retten war.
Problem #1: Heldentum
Scrum hat einen Ansatz, der stark auf interdisziplinäre Teams baut. Team im Sinne von Mannschaftssport: Wir haben ein gemeinsames Ziel, das wir nur zusammen erreichen können. Wir sind gemeinsam erfolgreich oder scheitern gemeinsam. Wie eine Fußballmannschaft.
Das Unternehmen hatte eine völlig andere Arbeitsweise: Es war, wie so viele andere auch, stark funktional aufgeteilt. In jedem dieser Silos gab es einen kleinen König, der das Sagen hatte. Und nicht nur das: Innerhalb jedes Silos gab es für jedes Thema einen Experten. Diese Experten waren hoch angesehen. Ihr Ansehen hing stark davon ab, dass sie eine Wissenshoheit besaßen und auch verteidigten. Das passt nicht wirklich gut zum Ansatz eines interdisziplinären Teams.
Problem #2: Ressourcenpool
Wenn ein neues Projekt aufgesetzt wurde (und wie in den meisten Organisationen gab es mehr Projekte als sie verkraften konnte), dann wurden diese mit so vielen Bruchteilen von Experten („Ressourcen“) bestückt wie auf dem Papier machbar erschien. Auch das ist ein gängiges Muster. Leider verträgt es sich mit dem Ansatz von Scrum nicht gut. Auch nicht mit der Realität übrigens. Aber dieses Thema ist einen eigenen Artikel wert.
Die Hauptaufgabe des Managements bestand darin, „Ressourcen“ zwischen Projekten hin- und herzuschieben, um die dort zahlreich auftretenden Probleme kurzfristig zu lösen. Wir erinnern uns: Jedes Problem hat genau einen Experten, der es lösen kann.
Die Hauptaufgabe der „Ressourcen“ war es, sich ein Thema zu suchen und darin Wissen aufzubauen und zu horten – und nicht zu teilen. Denn dann wurden nur sie gerufen, wenn es Probleme gab, nur sie konnten die Probleme lösen und nur sie bekamen Anerkennung und „Sichtbarkeit“ beim Management.
Wenn ich es in einem Satz beschreiben soll, würde ich sagen, es war eine Meritokratie im konstanten Feuerwehrmodus.
Schrauben sind nicht per se schlecht…
Ich will nicht sagen, dass die Organisation oder die Unternehmenskultur schlecht war. Das Unternehmen lebte und war am Markt recht erfolgreich, das will schon einiges heißen. (Auch wenn ich es nicht mag, wenn Menschen als „Ressourcen“ bezeichnet werden.)
Was ich sagen will: Die Organisation und die Unternehmenskultur haben nicht gut zum Ansatz von Scrum gepasst. Und hier hat Scrum verloren.
„Culture eats Scrum for breakfast.“
frei nach „Culture eats strategy for breakfast“, oft Peter Drucker zugeschrieben
Ich weiß was Sie denken, und Sie haben schon wieder Recht: Natürlich kann man auch in solchen Unternehmen Scrum einführen.
Um das jedoch erfolgreich zu tun, braucht es eine Menge an Veränderungen. Veränderungen machen Schmerzen. Große Veränderungen machen große Schmerzen. Damit eine Organisation große Schmerzen auf sich nimmt, braucht es neben sehr viel Zeit zum einen sehr starke Treiber, zum anderen müssen alle mitmachen.
Beides war hier nicht gegeben: Das Unternehmen war nicht in einer Überlebenssituation und weder Management noch Mitarbeiter waren unter den gegebenen Umständen bereit, ihre bisherige Arbeitsweise radikal zu verändern.
Schlimmer noch: Durch die jahrelangen erfolglosen Experimente mit Scrum waren es alle leid und wollten Scrum gar nicht mehr.
„Du bist jetzt der Fünfte, der das hier versucht durchzudrücken.“
Projektmitglied (möchte anonym bleiben)
So kam es, wie es kommen musste: Die Geschäftsführung griff nach unten durch und entfernte die Projektleitung, die bis dahin den Scrum Ansatz forciert hatte.
So leid es mir als agilem Evangelist tut, muss ich sagen: Das war in dieser Situation die richtige Entscheidung!
Fazit
Scrum passt nicht für alle und nicht in jeder Situation. Natürlich kann man es passend machen, aber man muss sich die Frage stellen: Wie sinnvoll ist das – und lohnt es sich überhaupt?
Letztlich kann auch der Trockenbauer das Gewinde von seinen Schrauben feilen, damit er sie mit dem Hammer einschlagen kann.
Deshalb sollte jede Organisation gut überlegen, ob Scrum für sie das richtige Werkzeug ist. Wie? Indem sie vorher genau überlegt, wo sie steht und wo sie hin möchte. Dann wird schnell klar, ob das Ziel und der Weg zu Scrum passt.
Hab ich schon gesehen – hab ich schon gemacht.
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