Boost? Backlash? Shake-Out!

Christoph Mathis von improuv hat vor kurzem einen starken Artikel zu Reaktionen von Unternehmen auf die Corona-Krise geschrieben:

Darin beschreibt er, das einige Unternehmen in der jetzigen Krise nicht nur nicht weiter in Richtung agil gehen, sondern sogar zu alten Command-And-Control Mustern zurückkehren. Das Modell von Frederic Laloux zur Entwicklung von Organisationen bietet ihm zufolge zwar vielleicht eine Erklärung, aber keine Hinweise auf mögliche Reaktionen. Abhilfe schafft aus seiner Sicht das Cynefin Framework: Wenn man das Modell auf die aktuelle Situation anwendet, stehen (zumindest einige) Unternehmen und sogar Branchen (zumindest teilweise) nicht mehr im komplexen, sondern im chaotischen Umfeld. Daraus ergibt sich aus dem Modell das folgende Aktionsmuster: Handeln, Wahrnehmen, Reagieren. Offensichtlich handeln einige Unternehmen jetzt reflexartig nach altbekannten Mustern und gehen damit in der Entwicklung eine oder mehrere Stufen zurück. Mathis‘ Empfehlung für Agilisten: Nicht beleidigt ins Schneckenhaus zurückziehen, sondern sich als ernsthaften Partner für die Nutzung verschiedener Konzepte zeigen.

Zurück zu Command & Control?

Der Artikel hat mich sehr zum Nachdenken angeregt, denn die Beobachtungen mache ich gerade auch. Ich bin auch absolut einer Meinung mit ihm, wenn er sagt, dass wir uns nicht ins Schneckenhaus zurückziehen dürfen – schon gar nicht beleidigt zurückziehen.

Backlash statt Boost

Und doch – wenn ich ganz tief in mich hineinhöre, bin ich – um im Bild zu bleiben – eher für Backlash als für Boost.

Ich weiß, was Sie denken: „Jetzt ist er komplett übergeschnappt! Er lebt davon, den Unternehmen Agil zu verkaufen und wünscht sich einen Rückschlag!?“

Wow. Langsam. Als jemand, für den Englisch zu den Fremdsprachen gehört, hab ich Boost und Backlash erstmal nachgeschlagen. Backlash hat mehrere Bedeutungen, darunter „Rückschlag“, aber auch „Gegenreaktion“ – was für mich nicht dasselbe ist.

Jetzt weiß ich nicht, welche Bedeutung Christoph Mathis im Sinn hatte, aber ich persönlich kann mich sehr gut mit einem Backlash im Sinne einer Gegenreaktion anfreunden – eher als mit einem weiteren Schub. Jedenfalls dann, wenn der weitere Schub in die bisherige Richtung ginge.

Oder anders: Für mich ist die Frage nicht: Boost oder Backlash, sondern ich frage: Kommt jetzt der Shake-Out?

Schon wieder ein Anglizismus – dieser gefällt mir trotzdem, denn er ist deutlich plastischer als das deutsche Wort Marktbereinigung. Das klingt doch etwas steril…

Marktbereinigung – was ist es und wozu soll das gut sein?

Rollen wir die Geschichte mal im Schweinsgalopp auf – und holen uns damit vielleicht eine weitere Perspektive auf das aktuelle Geschehen:

Geschichte von Agil im Schweinsgalopp

In den 1990er Jahren haben einige Leute damit angefangen, bessere Wege zu erschließen, Software zu entwickeln, indem sie es selbst getan haben und anderen dabei halfen.

„Wir erschließen bessere Wege, Software zu entwickeln, indem wir es selbst tun und anderen dabei helfen.“

http://agilemanifesto.org

2001 haben sich einige davon getroffen, ihre gemeinsamen Werte und Prinzipien aufgeschrieben, das Ganze auf einer Website veröffentlicht und – mit diesem „Agilen Manifest“ das Schlagwort „Agil“ ins Leben gerufen.

Im Laufe der folgenden Jahre haben sie ihre Ansätze weiter entwickelt, auf Konferenzen und in Diskussionsgruppen im Netz darüber gesprochen, Bücher geschrieben und haben damit weiteren Leuten geholfen, bessere Software zu entwickeln. Unter anderem auch mir.

Irgendwann wurde diese zunächst kleine Bewegung immer größer und größer, bis ein regelrechter Hype daraus geworden war. Dagegen ist zunächst nichts einzuwenden – auch ich habe mich zuerst gefreut, dass ich nicht mehr überall, wo ich hinkam, erklären musste, was dieses „Agile Softwareentwicklung“ war und warum dieses verrückte Zeug überhaupt funktionieren kann.

Dann hat das Ganze sich über die Grenzen der Softwareentwicklung hinweg zuerst im Rest der IT und danach im Rest der Organisationen ausgebreitet.

Nur leider hat sich das Wort viel schneller verbreitet als die Tat: Irgendwann war die Zahl der Leute, die über Agil gesprochen haben, deutlich größer als die Zahl der Leute, die es schon mal gemacht hatten. Und damit meine ich: So gemacht hatten, wie es gedacht war und nicht nach dem Motto: „Wir sitzen schon seit Jahren alle in einem Raum, wir sind schon immer agil gewesen.“

Es entstand ein riesiger Markt – ein Markt mit einer großen Nachfrage an „Agilen“ Experten, denn viele Unternehmen hatten das Wort vernommen und wollten selber auch von den Verheißungen profitieren.

Wie gut war es da, dass es Organisationen gab (und gibt), die Leute zu Experten machen – und das auch noch mit einem Zertifikat bestätigen.

Jetzt ist grundsätzlich nichts falsch an Zertifikaten. Nur ist halt einer, der 2 Tage an einer Schulung teilgenommen hat, noch kein Experte. Zumindest dann nicht, wenn er sonst nichts vorzuweisen hat.

Wo sind heute die Experten?

Und so stehen wir jetzt hier, in der Krise. Mit einer Menge an Organisationen, die (noch) zu wenig eigenes Know-How dazu aufgebaut haben, was Agil wirklich ausmacht. Einige davon werden von Leuten oder Firmen unterstützt, die wenig oder keine Erfahrung haben – oder noch schlimmer: Nur eine verwässerte Vorstellung davon, was Agil wirklich bedeutet.

Wenn von diesen Organisationen jetzt einige so reagieren, dass sie wieder die Werkzeuge anwenden, mit denen sie sich (besser) auskennen, dann ist das für diese Organisationen wahrscheinlich im Moment das kleinere Übel.

Ja, auch ich muss mich immer wieder an die eigene Nase fassen, um nicht zu vergessen, dass „Agil“ kein Selbstzweck ist.

Ich will keinen Bohrer

Wenn ich heute im Baumarkt einen Bohrer kaufe, dann will ich nicht wirklich einen Bohrer und ich will nicht wirklich ein Loch bohren. Was ich (vielleicht) wirklich möchte, ist mein Wohnzimmer zu verschönern, indem ich ein Bild aufhänge. Dazu brauche ich den Bohrer.

Und auch wenn der Berater im Baumarkt der Meinung ist, dass ein Bohrer das beste Werkzeug ist, um ein Bild aufzuhängen, muss er auch akzeptieren können, dass manchmal ein Nagel ausreichend ist.

Und wenn Organisationen wieder auf ältere Entwicklungsstufen zurückgreifen, dann haben sie (hoffentlich) einen guten Grund dafür. Höchstwahrscheinlich waren sie auf dem Weg noch nicht weit genug – oder sie waren in einer falschen Richtung unterwegs.

Deshalb sehe ich einen etwaigen „Backlash“ nicht komplett negativ und mehr in Richtung Gegenreaktion denn in Richtung Rückschlag.

Ich möchte sogar noch einen Schritt weitergehen und sagen: Es ist nicht alles gut, was in den letzten Jahren unter dem Etikett „Agil“ gelaufen ist.

Shake-Out: Backlash für die Quantität, Boost für die Qualität

Wenn es hier jetzt einen Shake-Out gibt, dann mag das die Quantität derer verringern, die das Etikett „Agil“ tragen. Aber die übrigen können ihre Qualität unter Beweis stellen, indem sie die Krise gestärkt überstehen. Das nennt man Resilienz.

Die anderen müssen versuchen, von ihrer neuen (alten) gesicherten Warte aus zu überleben. Das ist zwar schwieriger als von einer weiter entwickelten Warte aus, aber wahrscheinlich immer noch besser, als jetzt gleich im Chaos unterzugehen.

Also: Backlash für die Quantität, aber Boost für die Qualität. Damit kann ich leben. Übrigens auch damit, dass mit der Krise auch das Wort „Agil“ verschwindet. Hauptsache, die Werte und Prinzipien überleben.

Und was ist jetzt mit dem Schneckenhaus?

Die Welt ist nicht schwarz/weiß. Es gibt nicht nur diejenigen, die es schon geschafft haben und die, die ein oder zwei Felder zurück müssen.

Dazwischen gibt es mindestens fünfzig Schattierungen von Grau – oder von Grün, um mit Laloux zu sprechen. Organisationen, die schon weit gekommen sind, aber die jetzt in der Krise gut noch Unterstützung brauchen können.

Nicht um die Krise zu überleben, sondern um letztendlich die Resilienz noch aufzubauen – um gestärkt daraus hervorzugehen.

Wir sind hier, wir sind nicht im Schneckenhaus. Ruft an!

Wir sind nicht hier, um „Agil“ zu verkaufen. Wir sind hier, um schneller bessere Produkte liefern zu können – und dabei eine sichere Umgebung für die Mitarbeiter zu schaffen. Besser für die Kunden, besser für die Organisationen/Unternehmen – und besser für die Mitarbeiter. Das nennen wir „Agil in Balance“ – oder „fair besser“.

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